Unsere Preisträger:innen 2022

441 Werke wurden im letzten Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung eingereicht. Drei Autor:innen wurden mit dem Preis geehrt: Tomer Gardi, Uljana Wolf und Anne Weber. Entdecken Sie die meisterhaften Werke und ihre Macher:innen. Viel Freude beim Lesen!

Preisträger:innen

BELLETRISTIK

© Shiraz Grinbaum

Tomer Gardi: "Eine runde Sache", zur Hälfte übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
(Literaturverlag Droschl)

Über das Buch

In "Eine runde Sache" reisen zwei Künstler durch sprachliche und kulturelle Räume. Fremdheitserfahrungen, Identität und das Leben als Künstler sind die Themen des Romans, in dem sich die beiden Handlungsstränge gegenseitig spiegeln. Zuerst schickt sich Tomer Gardi selbst, auf Deutsch verfasst, als literarische Figur mit einem Deutschen Schäferhund und dem Elfen- oder gar Erlkönig an seiner Seite auf eine surreal-abenteuerliche Odyssee. Im zweiten Teil, einem aus dem Hebräischen übersetzten historischen Roman, folgen wir dem im 19. Jahrhundert lebenden indonesischen Maler Raden Saleh von Java durch Europa und zurück nach Asien.

Zur Begründung der Jury

Unverschämt, dieser Tomer Gardi. Den ersten Teil seines Romans erzählt er nicht in astreinem Deutsch, sondern in einer Kunstsprache mit eigenartiger Rechtschreibung und merkwürdigem Satzbau. Broken German. Es gibt einen zweiten Teil, oder besser: Es gibt den Roman doppelt. Jetzt hat Tomer Gardi ihn auf Hebräisch geschrieben. Anne Birkenhauer hat ihn ins Deutsche übersetzt. … „Eine runde Sache“ ist ein Schelmenstück. Wirklichkeit und Fiktion prallen darin aufeinander wie das Echte und das Gemachte. Dabei spielt Gardi ebenso kunstvoll wie dreist mit Lesegewohnheiten und Erwartungen an einen Roman, zumal an einen deutschsprachigen. „(...) ein Schriftsteller ist jemand, der Schwierigkeiten hat mit die deutsche Sprache“, schreibt er und hinterfragt unser Bedürfnis nach Korrektheit und Geradlinigkeit ebenso wie ästhetische Normen. Dahinter lauert die bittere Frage, wie es einem Menschen überhaupt gelingen kann, seine eigene Sprache zu finden. Kurzum: „Eine runde Sache“ ist ein großzügiger Roman von hoher sprachlicher Präzision.

Über den Autor

Tomer Gardi, geboren 1974 in Galiläa, lebt in Berlin. 2016 erschien sein Roman BROKEN GERMAN, 2019 SONST KRIEGEN SIE IHR GELD ZURÜCK (beide im Literaturverlag Droschl). BROKEN GERMAN erhielt als Hörspieladaption 2017 den Deutschen Hörspielpreis, das Hörspiel DIE FEUERBRINGER – EINE SCHLAGER-OPERETTA wurde von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats Februar 2018 gewählt.

Leseprobe

Ich bin ein gieriger Mensch, eine Person mit starke Bedürfnisse, und nach der Eröffnungsabend des Theater Festivals wollte ich folgendes: Bier, Brot, Zigarette. Ich war eine die Ersten die aus der Theater Saal kammen, und der Erste bei der Buffet. In meiner Hand hatte ich schon meine Feuerzeug und eine Zigarette. Von der Buffet habe ich zwei belegte Brotte genommen. Dann ging ich zum Bar, kriegte ein großes Bier, und das wars. Ich war dann bereit raus zu gehen, wo ich in ruhe trinken und essen und rauchen könnte.
Ich hatte dann aber auch, klarerweise, meine Hände ganz voll, und nach zwei Schritte von Bar richtung Ausgang rutschte ein Stück Salzgürke von meiner Brot auf dem Boden. Ich habe entschieden diese kleine Unglück zu ignorieren und machte zwei oder drei Schritte weiter, als hinter mich hörte ich ein Schrei, ein Stürz, ein Knall.
Erschroken, drehte ich mich um, zu sehen was loss war. Am Boden lag der Intendant, auf meiner Salzgürke ausgerutscht. In einer Hand hatte er seine verletzte rechte Knie. Seine Gesicht war krum von Schmerz. Mit seiner andere Hand hat er seiner Stirn und rechte Auge berührt, leichte Berührungen, mit seine Fingerspitze, als ob er von seinem Fall Blind geworden ist, und versuchte jetzt seiner Gesicht neu kennenzulernen. Das rechte Seite seiner Gesicht war Rot. Morgen wird die Auge ganz blau. Übermorgen eine komische Grün. Dann eine hässlichen Gelb. Der arme Intendant.

SACHBUCH/ESSAYISTIK

© Alberto Novelli

Uljana Wolf: "Etymologischer Gossip: Essays und Reden" (kookbooks Verlag)

Über das Buch

Kommt die Sprache erst zu ihrem Wort, wenn sie aus der Selbstverständlichkeit fällt? In den hier versammelten Essays und Reden entwirft Uljana Wolf »die Verschiebung des herrschenden Ausdrucks« als produktive Verstörung angestammter Wahrnehmung von Sprache. Ob Prosagedicht, Übersetzung, translinguales Schreiben – Wolfs Augenmerk gilt dem schmugglerischen Sprachhandeln, den hybriden Formen, dem »Grundrecht«, »jenes und zugleich ein anderes zu sein«. Davon bleibt auch die Form des Essays nicht unberührt, wird »Guessay«, »Translabor«, Versuchsanordnung, eine Form, die zum Weitersprechen, Fabulieren und »gossippen« einlädt.

Zur Begründung der Jury

Uljana Wolf hätte in allen drei Kategorien für unseren Preis nominiert werden können, und in allen drei auch mit diesem einen Buch, denn das ist sehr vereinfacht gesprochen ein Sachbuch übers Übersetzen von Lyrik – allerdings höchst komplex geschrieben von einer Poetin, die auch als Übersetzerin renommiert ist. Wolfs „Etymologischer Gossip“ bietet denn auch sowohl hinreißende Gedichte als auch brillante Übertragungen aus anderen Sprachen. Doch gewonnen hat der Band zu Recht in der Sparte Sachbuch, denn diese Lebensthemensammlung seiner Verfasserin ist ein Musterbeispiel für Essayistik. Und geradezu übermütig sind Wortgewitzheit und Assoziationsfreude, mit denen Uljana Wolf ans Werk geht. Dieses Sachbuch ist nicht zuletzt ein Lachbuch: Wer wissen möchte, wie eine fröhliche Sprachwissenschaft sich liest, der hat damit die geeignete Lektüre zur Hand. Ihrem „Etymologischen Gossip“ möchte man gar nicht mehr aufhören zu lauschen.

Über die Autorin

Uljana Wolf ist Lyrikerin und Übersetzerin. Ihr Werk wurde in über 15 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Peter-Huchel-Preis für ihr Debüt KOCHANIE, ICH HABE BROT GEKAUFT (kookbooks, 2005) und dem Arbeitsstipendium der Villa Massimo Rom 2017/18. Zuletzt übersetzte sie mit Michael Zgodzay Gedichte von Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki aus dem Polnischen (NORWIDS GELIEBTE, Edition Korrespondenzen 2019).

Leseprobe

Vor einigen Jahren fiel mir ein Satz in die Hand, den ich mit Mitte zwanzig beim Studium in Krakau in einen geborgten Computer in der ulica Kremerowska getippt hatte. In der Küche am Ende des Flures, erinnere ich mich, war das leiernde Murmeln des lektors aus dem Fernseher zu hören gewesen, der alle englischen oder französischen Filmstimmen gleichförmig polnisch übersprach. In der Tonspur darunter ahnte man die Originalfassung, bekam sie aber nie zu greifen. Je lauter das Gerät, desto fester übergrantelte der lektor die Fetzen. „Nur noch reden, wenn es wie eine Übersetzung klingt.“ Das war mein Satz, den ich fand. Warum wollte ich in Krakau, als ich nach Russisch, Englisch, Spanisch auch ein wenig Polnisch lernte und an meinem ersten Gedichtband saß, übersetzerisch klingen? Wie hat man sich eine solche übersetzerische Rede vorzustellen? War es nicht so, dass das Übersetzte das Gesagte in einer anderen Sprache verständlich machen soll? Warum soll man merken, dass es übersetzt wurde, warum soll der Rede Übersetzerisches anhaften, Unverständliches gar? Und wie klänge etwas übersetzerisch?

ÜBERSETZUNG

© Hermance Triay

Anne Weber übersetzte aus dem Französischen: "Nevermore" von Cécile Wajsbrot (Wallstein Verlag)

Über das Buch

Nach dem Tod einer Freundin zieht sich eine Übersetzerin nach Dresden zurück, um dort an der Übertragung von Virginia Woolfs TO THE LIGHTHOUSE zu arbeiten. Aus ihren tastenden Versuchen, sich der fremden Sprache anzunähern, entsteht eine betörende Musik und bei ihren nächtlichen Spaziergängen glaubt sie der toten Freundin zu begegnen. Ihre Einsamkeit weitet sich zu einem gewaltigen Echoraum, der von dem verfallenen Haus in Virginia Woolfs Roman über das einstmals zerstörte Dresden bis zur High Line, einer ehemaligen New Yorker Industrieruine, und bis nach Tschernobyl reicht; Orte, die dem Verfall anheimgegeben sind und doch wieder aufleben.

Zur Begründung der Jury

Eine französische Autorin, die auch Übersetzerin ist, übersetzt „To the Lighthouse“ von Virginia Woolf. Sie wird ihrerseits übersetzt von Anne Weber, einer Deutschen, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Was diese drei Frauen hier aufführen, das ist ein Krimi des Bezeichnens! Doch wo ist das Bezeichnete eigentlich? „Jedes Ding verbirgt ein anders“, liest man in Anne Webers Worten bei Cécile Wajsbrot. Und so führt sie uns im Flüsterton dreier Sprachen ein in ein Reich der Abwesenheiten: in das ausgebombte Dresden, die im Krieg zerstörte Kathedrale von Coventry, das verseuchte Gebiet um Tschernobyl und zur Industrieruine der High Line in New York. Etwas lebt an diesen Orten, das sich immer wieder entzieht. So wie das Original sich dem Übersetzer entzieht. Gespensterorte und – Gespensterworte. Anne Weber, herzlichen Glückwunsch zu diesem „Roman Noir“ der Übersetzungskunst. Herzlichen Glückwunsch auch zum Preis der Leipziger Buchmesse.

Über die Autorin

Die Autorin und Übersetzerin Anne Weber, geb.1964 in Offenbach, lebt in Paris. Sie übersetzt ins Deutsche (u.a. Pierre Michon, Marguerite Duras) und Französische (z. B. Sibylle Lewitscharoff und Wilhelm Genazino). Ihr Roman KIRIO (S. Fischer, 2017) stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017, für ANNETTE, EIN HELDINNENEPOS (Matthes & Seitz, 2020) erhielt sie den Deutschen Buchpreis.

Leseprobe

Es war einmal eine Frau, (…) Eine Schriftstellerin, die den Augenblick zu erfassen versuchte, wie sie sagte. (…) In einem Buch, dessen Titel To the Lighthouse ins Französische übersetzt wurde mit La promenade au phare, Der Spaziergang zum Leuchtturm. Die Bewegung, die in dem to steckt, findet sich im Wort promenade, Spaziergang, wieder. Kann man aber eine Fahrt auf dem Meer Spaziergang nennen? Werden Spaziergänge nicht eher an Land gemacht? Später werden noch andere Titel hinzukommen. Voyage au phare, Reise zum Leuchtturm. Vers le phare, Au phare, Zum Leuchtturm hin, Zum Leuchtturm. Alle scheitern ein wenig an der Evidenz des to. Können sie nicht wiedergeben. Die Fahrt zum Leuchtturm, sagt die erste deutsche Übersetzung. Und eine neuere Fassung, Zum Leuchtturm. Das Deutsche erlaubt eine wörtlichere Übersetzung als das Französische, denn es kann die englische Wortkonstruktion nachbilden. Aber das Ergebnis ist kompakt, die Silben sind zu dicht, verglichen mit den luftigen Klängen des Englischen. Vielleicht ist das der Grund, warum in der ersten Übersetzung Die Fahrt hinzugefügt wurde, die Entsprechung unserer französischen Promenade, aber anders als in Promenade steckt in Fahrt die Idee einer Strecke, die eher mithilfe eines Transportmittels zurückgelegt wird, das auch ein Boot, ein Schiff, sein kann. In diesem Sinn wäre Voyage au phare, Reise zum Leuchtturm, die genaueste, auch in der Silbenzahl mit dem leicht-luftigen englischen Titel übereinstimmende Übertragung.

Ihre Ansprechpartnerin

Julia Lücke
Julia Lücke
Pressesprecherin