SACHBUCH/ESSAYISTIK
Tom Holert: „ca. 1972“ Gewalt – Umwelt – Identität – Methode (Spector Books)
Über das Buch
Im Zentrum des Text-/Bild-Essays steht das Jahr 1972, das nach der revolutionären Euphorie von 1968 einen Wendepunkt markierte: Das Vertrauen in die Nachkriegsordnung und die Fortschrittsmechanik der Moderne wich einer Atmosphäre von Ernüchterung, Verbitterung und Angst. Der Berliner Kunsthistoriker Tom Holert diagnostiziert die vielschichtigen und gegensätzlichen Aufschübe, Aufbrüche und Ausschweifungen dieser Zeit, die nicht linear in einer ereignishistorischen Erzählung dargestellt werden können, sondern als räumlich-zeitliche Konstellation, als Gefüge kultureller, intellektueller und ästhetischer Zusammenkünfte und Zusammenbrüche. Ein Ausgangspunkt ist die visuelle Kultur der Zeit: Fotografien, Filme, Bücher, Zeitschriften, Werke bildender Kunst bezeugen das Denken und Handeln radikaler Zeitgenoss:innen.
Zur Begründung der Jury
Mit seinem hybriden Text-Spiel fordert Tom Holert uns auf, die politischen Kämpfe von »ca. 1972«, deren Scheitern das vermeintliche Ende der Geschichte einleitete, aus einer globalgeschichtlichen Perspektive neu zu denken. Entlang von visueller Kunst eröffnet er den weit verzweigten Zeitraum ökologischer und emanzipatorischer Bewegungen, lässt ihre inneren Debatten sprechen, zeigt ihre gewaltförmigen Verirrungen und lässt uns aus den Diskursen und Kipppunkten der Kämpfe von damals für heute lernen.
Über den Autor
Tom Holert, geboren 1962 in Hamburg, hat Kunstgeschichte studiert, für Zeitschriften gearbeitet (Texte zur Kunst, Spex), an Hochschulen gelehrt (u. a. Akademie der bildenden Künste Wien; Freie Universität Berlin; HFBK Hamburg) und Ausstellungen organisiert (u. a. im HKW Berlin). Holert ist Gründungsmitglied des Harun-Farocki-Instituts in Berlin und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter »Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert« (2002), »Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen« (2006, beide bei Kiepenheuer & Witsch) und »Politics of Learning, Politics of Space. Architecture and the Education Shock of the 1960s and 1970s« (De Gruyter, 2021).
Leseprobe
„ca. 1972“ war der historische Horizont der Moderne dabei, seine orientierende Funktion zu verlieren. Die Leuchtfeuer des Fortschritts verblassten, politische Projekte kamen an ihr Ende. Gleichzeitig betraten neue, zuvor ausgegrenzte Akteure mit ihren Identitäten, Organisationsformen und Politikstilen die Bildfläche. Alternative Kartografien einer „dritten“ und „vierten“ Welt wurden sichtbar. Das Schicksal der „Umwelt“ und des Planeten rückte auf die Agenda. Aus den Blickwinkeln heraus, die dieses Buch einnimmt, erscheint „ca. 1972“ daher auch als ein Raum aktivistischer Konjunkturen und ästhetischer Energien, der Entgrenzung und Rekonfiguration, ungeeignet, arretiert und vereindeutigt zu werden. Dieser Befund kann frustrieren, weil er keine Lektion, kein kompaktes Wissen bereithält. Aber genauso gut eignet ihm etwas Euphorisierendes, weil er auf die Potentialität seines historischen Gegenstands über dessen vermeintliche Zeit und deren Horizonte hinaus verweist.